Mittwoch, 16. Januar 2013

Meine Kopflosigkeit

Ich muss einkaufen. Gerstengraupen für das neueste Rezept aus der Biokiste. Vergesse die Schreibtischbrille abzulegen und die Außenweltbrille aufzusetzen. Das passiert mir in meiner Kopflosigkeit ab und zu. Die Optikerin hatte mich gewarnt: mit der Arbeitsbrille dürfte ich auf keinen Fall auf die Straße. Sie meinte: ins Auto. Da wir kein Auto besitzen, ignoriert mein Hirn konsequent diesen erhobenen Zeigefinger. Draußen umgarnt mich der Frost. Ein eiskalter Himmel. Eine schneidende Sonne. So viel Licht war schon lange nicht mehr. Ich steige auf mein Fahrrad. Graupen kaufen für ein raffiniertes Risotto. Als ich unter der Bahnlinie durch bin, am Kreisverkehr vorbei, fahre ich weiter. Einfach weiter. Die Vernunft meldet sich ein letztes Mal. Es ist bitterkalt. Ich habe nichts dabei. Kein Handy, kein Wasser, kein Brot. Kein einziges Auto überholt mich mehr, nachdem ich hinter Mannheim die Miele überquert habe. Am Alten Meldorfer Hafen vorbei. Durch die starre Landschaft. Jeder einzelne Grashalm sticht scharf und blendend weiß in die Luft. Nicht zu reden von den Sanddornsträuchern. Dem Wermut. Dem Schilf im Speicherkoog. Den Rotorblättern am Horizont. Nichts bewegt sich mehr. Nur ich. Vorwärts. Immer westwärts. Auch der grüne Deich ist weiß. Schneeweiß. Eisweiß. Alle Farbe ist aus der gefrorenen Welt verschwunden. Nur das Licht der Sonne spiegelt sich tausendfach in den Eiskristallen. Die Nordsee hat sich kilometerweit von der Küste zurückgezogen. Es muss gerade niedrigstes Niedrigwasser sein. Ich darf nicht stehen bleiben. Solange ich trete, erfriere ich nicht. Mit zwei Stunden Verspätung stehe ich vor dem Regal mit den laktosefreien Perlgraupen und reibe mir verwundert die Augen. Ich trage immer noch die Innenweltbrille.

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