Dienstag, 1. Juni 2010

Der Fluch der Zeit

Am Nachmittag veröffentlichte das polnische Innenministerium auf seiner Website eine pdf-Datei mit der ersten Version der Abschrift der Gespräche im Cockpit der am 10. April bei Smolensk verunglückten polnischen Regierungsmaschine. Sofort krachte der Server zusammen. Niemand hatte mit einem Ansturm von mehreren Hunderttausend Zugriffen gerechnet.
Dann meldeten sich vereinzelte verstörte Stimmen. Kopfschüttelnde Luftfahrtexperten, die von einer "gespenstischen Ruhe" im Cockpit, noch wenige Sekunden vor der Katastrophe, sprechen. Die Piloten realisierten offenbar weder, was sie taten noch wo sie sich befanden. Konsequent wurden alle Warnungen der Bordelektronik, des Towers sowie der Kollegen, die eine Stunde zuvor mit Journalisten in Smolensk gelandet waren, ignoriert. Oder davon, dass keine einzige der Grundregeln befolgt wurde. Dass die Sinkgeschwindigkeit beispielsweise bis dreifach erhöht war. Die Sicht aber im Gegenzug so gut wie Null betrug. Der Ausbildungschef der Luftwaffe kann sich die Anwesenheit des Luftwaffengenerals im Cockpit in der letzten Phase des Unglücksfluges nicht erklären. Der General soll (seine Stimme ist im Hintergrund, schwer verständlich) Daten abgelesen haben, was normalerweise Sache des Navigators sei. Nie würde jemand, der nicht zur Crew gehört, solche Aufgaben übernehmen.

Es gibt mehrere nicht identifizierte, d.h. keinem eindeutigen Sprecher zugewiesenen Äußerungen. Und es gibt nach wie vor mehrere unverständliche Stellen. Außer dem General spricht auch der Protokollchef im Cockpit. U.a. ist zehn Minuten vor dem Absturz sein Satz registriert "Na razie nie ma decyzji prezydenta, co dalej robić." ("Noch gibt es keine Entscheidung des Präsidenten über das weitere Vorgehen.").

Nach der veröffentlichten ersten Version schwieg der Flugkapitän während der letzten 30 Sekunden. Nun wird spekuliert, er könnte "eingeschlafen" sein. Sein letzter Gesprächsakt wird um 10:40:34 (= Moskauer Zeit, entspricht 8:40:34 MEZ) mit "włączone" (= "eingeschaltet") registriert. Es ist seine Bestätigung der Aufforderung des Towers, die Scheinwerfer einzuschalten. Das Flugzeug befindet sich zu dem Zeitpunkt auf dem Sinkflug zwischen 200 und 150 Metern - aber wo? Über der Landebahn des Flughafens oder über dem Boden einer davor liegenden Schlucht? Das Bordsystem TAWS hatte zwischen der Aufforderung des Towers und der Bestätigung des Kapitäns bereits zum zweiten Mal die Warnung abgegeben TERRAIN AHEAD (um 10:40:17 und 10:40:33). Diese Warnung ertönt noch zweimal (10:40:42 und 10:40:49), bevor TAWS eine Stufe höher warnt: PULL UP, PULL UP (insgesamt acht Mal: 10:40:44 - 10:40:46 - 10:40:51 - 10:40:53 - 10:40:55 - 10:40:58 - 10:41:00 - 10:41:01). Die Aufzeichnungen enden um 10:41:05.

Ein Luftfahrtexperte sagt, normalerweise sei "pull up, pull up" das letzte, was ein Pilot noch höre. Meist sei es dann bereits zu spät, die Maschine noch erfolgreich hochzuziehen. Die polnischen Piloten hörten die Warnung acht mal im Doppel und reagierten nicht. Sie reagierten auch nicht auf den zweimaligen Befehl des Lotsen, den Landeanflug sofort abzubrechen. Sie reagierten erst auf das Geräusch eines Zusammenstoßes [mit einer kräftigen Birke, wie wir wissen, dabei brach der linke Flügel ab und die Maschine war de facto manövrierunfähig] - der zweite Pilot quittierte es mit dem ordinären, landauf, landab beliebten Fluch "kurwa mać" [zu deutsch etwa "verfluchte Scheiße" oder englisch "fuck it"]. Die etymologische Herkunft bzw. die lexikalische Bedeutung dieser Kraftausdrücke zielt auf ähnliche Körperregionen. "Kurwa" bietet aber ein weiteres Spektrum an als Scheiße. "Kurwa" ist die sehr umgangssprachliche Bezeichnung für Prostituierte.

Mit dem Wort "kurwa", ein zweites Mal von einem nicht identifizierten Sprecher mit endlos lang gezogenem ...aaa ausgesprochen, enden die Aufzeichnungen auf der black box.

Kurz nach dem Absturz wurde berichtet, die Cockpitgespräche würden "bis auf einige persönliche Stellen" veröffentlicht. Eine solche "persönliche Stelle", hieß es damals, sei "das Gebet der Piloten am Schluss". Schöne Legende! Passt ins Programm des ultrakatholischen erzkonservativen Radio Maryja. Eine polnische Boulevardzeitung verkündete kürzlich auf ihrer Titelseite, dass die Aufzeichnungen mit den Worten "Jezus! Jezus!" enden.

Nix dergleichen. Keine Märtyrer am Kreuze. Eher sich selbst überschätzende Karrieristen. Der General (spokój jego duszy) wollte bei der Landung helfen. Und der Präsident (spokój jego duszy) wollte ein zweites Mal gewählt werden.

http://91.210.209.188/Transkrypcja_rozmow_zalogi_samolotu_Tu-154_M.pdf

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